Innsbruck Informiert
Jg.2025
/ Nr.2
- S.22
Suchen und Blättern in knapp 900 Ausgaben und 25.000 Seiten.
Gesamter Text dieser Seite:
Stadtgeschichte
„Brechen wir aus!“
fängnisses „Sonne“. Im weiteren Verlauf
des Forschungsprojekts rücken – in Zusammenarbeit mit der Familie von Leokadia
Justmans Sohn Jeffrey Wisnicki – nun das
polnische Original und andere Texte von
Justman in den Fokus. Auch für die unmittelbare Nachkriegszeit sind neue Informationen in ihrem Buch zu finden: Sie fungierte ab Mitte 1945 als erste Sekretärin
des bisher wenig erforschten Jüdischen
Hilfskomitees, das sich nach der Befreiung als Anlaufstelle für Displaced Persons
etablierte und der Vorläufer der von Rudolf Brüll etwas später wieder gegründeten Israelitischen Kultusgemeinde war.
Der berührende Bericht von Leokadia Justman, die als junge Frau mit
ihrem Vater vor dem Holocaust nach Tirol flüchtete, ist endlich auf Deutsch
erschienen. Dazu gibt es eine Ausstellung und bald auch eine Graphic Novel.
© FORSCHUNGSPROJEKT JUSTMAN
von Niko Hofinger
Die erste jüdische Hochzeit in Innsbruck nach dem Holocaust fand am 26. September 1946 im Gasthaus Adambräu statt
L
eokadia Justman sagt am Abend des
18. Januar 1945 zu ihrer Freundin
und Mitgefangenen Marysia Fuks:
„Brechen wir aus!“. Die beiden klettern
über die Schuttberge des von Bomben
schwer beschädigten Innsbrucker Polizeigefängnisses und stehen auf dem Südtiroler Platz vor dem Bahnhof. Damit beginnt
der letzte Teil der Flucht der jungen jüdischen Frauen aus Polen, der mit der Befreiung durch amerikanische Truppen am
8. Mai 1945 in Lofer endet.
Leokadia Justman hat die nationalsozialistische Verfolgung überlebt. Nach dem
Krieg schreibt sie ihre Geschichte auf und
berichtet über die dramatischen sechs
Jahre in Polen und Tirol. Mit Mut, Intelli42
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genz und Glück entkommt sie immer wieder – zunächst mit ihren Eltern, dann allein – dem sicheren Tod. Hier in Innsbruck
findet sie dabei unerwartete HelferInnen:
Polizisten, Gefängniswärter und widerständige Frauen beschützen sie, teilweise
unter Lebensgefahr. Acht dieser Personen
werden seit 1980 von der Shoah-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt.
Ein Lesebuch für Interessierte
Zum Forschungsprojekt:
In dem interdisziplinären Forschungsprojekt der Universität Innsbruck in Kooperation mit dem Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck
zu Leokadia Justmans Bericht werden nun die ersten Ergebnisse
greifbar: Das Buch „Brechen wir aus!“ (Tyrolia Verlag, Veröffentlichungen des Innsbrucker Stadtarchivs, Neue Folge 81) ist seit Kurzem in
den Buchhandlungen erhältlich. Die gleichnamige Ausstellung, die bis
Ende Oktober im „Gauleiter-Hofer-Zimmer“ des Tiroler Landhauses
zu sehen sein wird, wurde am 27. Jänner im Beisein der Nachkommen
von Autorin Leokadia Justman feierlich eröffnet. Das Forschungsprojekt geht weiter, Ende März wird eine wissenschaftliche Konferenz in
Innsbruck unter der Leitung von Dominik Markl neue Fragen zu Text und
Kontext behandeln, im April erscheint eine 90-seitige Graphic Novel von
Alwin Hecher.
Der Text von Leokadia Justman erscheint
nun 2025 erstmals in deutscher Sprache.
Zugleicht ist es der erste literarische Text
einer Holocaust-Überlebenden aus Tirol.
In ihm schildert eine verfolgte 24-jährige Frau ihre Sicht der Dinge, ihre Ängste, die Trauer um die im Vernichtungslager Treblinka ermordete Mutter und den
im KZ Reichenau ermordeten Vater, die
tägliche Bedrohung, aus dem Gefängnis
auf die Deportationslisten in die Todeslager zu kommen. Dazwischen wird auch
einmal gealbert und gelacht, die extreme Anspannung, sich mit den Innsbrucker
Polizisten und Gefängniswärtern gutzu-
stellen und doch alle möglichen Annäherungen zu vermeiden, ist aber immer
präsent. Der Gefängnisdirektor Wolfgang
Neuschmid und Beamte der Polizei versuchen die mörderischen Pläne der Gestapo
zu sabotieren, indem sie die jungen Frauen als unabkömmlich in der Polizeiküche
bezeichnen. Zu guter Letzt gewährt ihnen
ein Polizist nach ihrem Ausbruch Unterschlupf, ein anderer hilft bei der Besorgung falscher Papiere, die bei der Flucht
nach St. Martin bei Lofer helfen und bis
Kriegsende Schutz bieten.
© FAMILIENARCHIV WISNICKI
© FAMILIENARCHIV WISNICKI
Das vergessene Polizeigefängnis trug den Spitznamen „Sonne“ nach dem vorher dort befindlichen Hotel. Heute entsteht an dieser Stelle die neue RLB-Zentrale (Rendering: Grzegorz Jakubowicz)
Quelle für Forschende
Leokadia Justman ist so präzise in ihren
Erinnerungen, dass eine ganze Gruppe lokaler ForscherInnen ein Jahr lang damit
beschäftigt war, die in ihrem Text enthaltenen Fakten mit vorhandenen und neuen Quellen abzugleichen. Für die Ausstellung im Tiroler Landhaus gelang auf Basis
alter Pläne im Stadtarchiv in Verbindung
mit Justmans genauen örtlichen Schilderungen eine dreidimensionale Rekonstruktion des völlig aus dem städtischen
Erinnerungsbogen gefallenen Polizeige-
Cover des druckfrischen Buches mit einem Porträt
der Autorin
Buchpräsentation
„Wir brechen aus!“
am 4. Februar 2025,
um 18.00 Uhr
im Plenarsaal des
Innsbrucker Rathauses, 6. Stock.
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